Controlling 21

Dr. J. Schuhmacher

vg

Barrierefreiheit / behindertengerecht

Definition

Barrierefreiheit wird oft mit Ergonomie gleichgesetzt. Allerdings ist es aus meiner Sicht die höchste Stufe / Form der Ergonomie. Barrierefreie Internet-Auftritte müssen meines Erachtens alle ergonomischen Anforderungen aller denkbaren Zielgruppen erfüllen.

In Deutschland wird aufgrund der Gesetzeslage dies fälschlicherweise auch oft als behindertengerechtes Web bezeichnet.

Barrierefreiheit steht für die Offenheit der Systeme für alle Nutzer, den Zugang zu den Inhalten mit jeglicher Software - also allen Browsern und allen Betriebssystemen, den Zugang zu den Inhalten mit jeglicher Hardware sowie die Standardisierung aller angebotenen Inhalte. Das bedeutet, dass sämtliche Informationen und Daten jedem zugänglich sein müssen. Hinzu kommt die Freiheit der Nutzer, alles individuell anzupassen zu können.

Anforderungen

Sogenannte barrierefreie Internet-Auftritte müssen alle aktuellen W3C-Standards einhalten, alle aktuellen DIN EN ISO-Normen berücksichtigen, Inhalt (HTML) und Layout / Form (CSS) deutlich trennen, auf allen derzeit verwendeten Medien lauffähig sein. Letzteres kann auch sehr alte Hard- und Software sein. Barrierefreiheit bedeutet auch, einfache Erweiterbarkeit sicherzustellen, auf zukünftige Browser, Geräte und Medien vorbereitet zu sein sowie alle Inhalte übersichtlich und in leicht verständlicher Sprache zu präsentieren.

Englisch wird dafür das Wort Accessibility - Zugänglichkeit benutzt. Hierfür wurde 1999 auch eine WAI - Web Accessibility Initiative - vom W3C ins Leben gerufen.

Häufig findet sich das Wort geschmeidige Transformation. Dies betrifft unter anderem die Hard- und Software-Unabhängigkeit eines WAI-konformen Auftrittes.

Da diese Anforderungen sehr hoch sind, spricht man bei Internet-Auftritten, welche diese Ziele anstreben, aber nicht ganz erreichen, auch oft von barrierearm oder zugänglich.

Ein Beispiel

Liste aller Anforderungen
barrierefreiherkömmlich
CSS-SteuerdateiHandformatierungen
CSS-Layout mit divTabellenlayout
automatisch sich dem Browser und dem Monitor anpassendes Layoutfeste Layoutbreite (meist sogar in Pixel)
skalierbare Schriften (ideal in em oder Prozentgrößen)feste Schriftgrößen (oft sogar in Pixel oder Punkt)
fehlertolerantes Interaktionsdesign: flächige Bereiche zum Klicken gekennzeichnetfehlerintollerantes Navigations-Layout: genaues Zielen erforderlich, da nur kleine Links anklickbar sind
hohe Interaktionssicherheit: klare Unterscheidung Links und Text interne / externe Links, visited links, Titlekeine oder eingeschränkte Interaktionssicherheit:
Navigation aus Bildern, Java-Applets oder Flash-Objekten
gruppierte Formulareungruppierte Formulare
verständliche Rückmeldungen bei Fehlernkeine oder unverständliche Meldungen
Ansteuerung aller Formularfelder und Links in einer Navigation mittels Tabulator-Taste auf der Tastatur möglichreine Mausbedienung erforderlich
Multimedia-Inhalte besser zugänglich durch Text-Äquivalente im Alt-Tag etc.unbearbeitete Bilder, Videos, PDF und Flash

Die Umsetzung

Wer Barrierefreiheit erreichen oder zumindest anstreben will, muss somit einiges beachten, prüfen und ggf. optimieren.
Jegliche sowohl früher gebräuchliche feste Handformatierung als auch heute noch in manchen Redaktionssystemen übliche feste Formatierung der Inhalte muss durch eine CSS-Steuerdatei also Cascading Style-Sheets mit dynamischer respektive anpassbarer Formatierung ersetzt werden. Denn nur diese können von Nutzern deaktiviert respektive durch eigene Style-Sheets ersetzt werden. Nur diese werden z.B. von Braille-Lesegeräten etc. ignoriert. Zum Verständnis: CSS Stylesheets sind so etwas wie die jederzeit wechselbaren Formatvorlagen in Schreibprogrammen, mit denen man Texte einheitlich formatiert.
Feste Tabellen nur für das Layout der Gesamtseite respektive des gesamten Auftrittes, wie sie früher zwingend notwendig und bis heute in manchen Redaktionssystemen noch verwendet werden, müssen durch CSS-Layout mit sogenannten divs - Divisions, also Bereichen - ersetzt werden. - Vorsicht: Davon ausgenommen sind reine Inhaltstabellen, wie die obige. Mit den barrierefreien Zusatzangaben sind sie weiterhin nicht nur erlaubt, weil für die einfache sowie übersichtliche Darstellung komplexer Inhalte notwendig, sondern sogar erwünscht.
Früher übliche feste Layoutbreiten (meist sogar in Pixel) müssen durch ein automatisch sich dem Browser(-Fenster) und dem Monitor anpassendes Layout ersetzt werden. - Testen Sie z.B. mein Layout, indem Sie (bei Windows etc. oben rechts und bei Apple oben links) in der Ecke das mittlere Symbol anklicken, um den Browser etwas zu verkleinern. Dann verwenden Sie die Maus, um den rechten Rand des Browser-Fensters nach links zu schieben.
Früher übliche feste Schriftgrößen (oft sogar in Pixel oder Punkt) müssen durch skalierbare Schriften (ideal in em oder Prozentgrößen) ersetzt werden. Nur so können z.B. Leseschwache oder Sehbehinderte auf jedem Gerät alle Texte proportional vergrößern.
Früher übliche kleine Navigationsflächen mit winzigen Schriften etc. also ein fehlerintollerantes Navigations-Layout, das genaues Zielen erfordert, da nur winzige Links anklickbar sind, muss durch ein fehlertolerantes Interaktionsdesign mit (groß-) flächigen Bereichen zum Klicken ersetzt werden.
Früher übliche Navigationen aus Bildern, Java-Applets oder Flash-Objekten, welche keine oder nur eine eingeschränkte Interaktionssicherheit boten, müssen durch eine hohe Interaktionssicherheit mit klarer Unterscheidung der Text-Links vom Text sowie der internen und externen Links, der visited links, mit Title etc. ersetzt werden.
Früher übliche ungruppierte Formulare müssen durch gruppierte Formulare mit einem logischen und leicht nachvollziehbaren inneren Aufbau ersetzt werden.
Zudem müssen bei Formularen die früher übliche reine Mausbedienung durch eine Ansteuerung aller Formularfelder und Links in einer Navigation mittels Tabulator-Taste auf der Tastatur möglich sein.
Früher üblicherweise fehlende oder unverständliche Meldungen müssen durch verständliche Rückmeldungen bei Fehlern ersetzt werden.
Früher übliche unbearbeitete Bilder, Videos, PDF und Flash Multimedia-Inhalte müssen durch Text-Äquivalente im Alt-Tag etc. leichter zugänglich sein.

Grundlegend kommen jedoch Punkte hinzu wie die fehlerfreie Programmierung, denn Fehler auch im (angeblich so unwichtigen, weil oft fehlertoleranten) HTML-Quellcode stören jeden Browser und vor allem die komplexeren Geräte der Seebehinderten und Blinden. Angesichts der heute frei verfügbaren Testprogramme, welche einem Fehler anzeigen, kann (und darf) es für eine fehlerfreien Programmierung auch keine Ausreden mehr geben. Fehlerfreier Quellcode ist möglich.

Hinzu kommt die konsequente Trennung von Inhalt und Zusatzdateien. Dies betrifft vor allem das früher oft direkt in der Textdatei / HTML-Datei manuell hineinprogrammierte JavaScript. Extrem störend wirkt sich dies am Seitenanfang aus. Aber generell gehört es in separate JavaScript-Dateien ausgelagert. Im HTML-Code wird nur (und zwar ganz unten auf der Seite) auf die ausgelagerte JS-Datei verwiesen / verlinkt. Das reicht für die volle technische Funktionsfähigkeit aus.

Ebenso muss man hier auf die im Deutschen oft verwendete komplizierte Sprache wie bei Wissenschaftlern und im Verwaltungswesen hinweisen: Beide Formen sind weder behinderten- noch internet-gerecht. Dies gilt umso mehr, wenn sie in sogenannten Text- respektive Blei-Wüsten in langen Absätzen angeboten werden. Eine einfache, verständliche Sprache in möglichst kurzen Sätzen ist möglich - auch für Wissenschaftler und Beamte.

Chancen

Die enormen Chancen barrierefreier Auftritte werden bisher unterschätzt und kaum genutzt. Angesichts riesiger Angebote mit weitgehend vergleichbaren und ähnlichen Preisen für Produkte und Dienstleistungen wird die Ergonomie zukünftig über Erfolg und Misserfolg im Internet entscheiden.

Neue Nutzergruppen gewinnen

Jeder Betreiber kann durch obige Maßnahmen sehr einfach neue Benutzergruppen gewinnen, z.B. Blinde, Sehbehinderte, Hörgeschädigte, Farbenblinde, Lesebehinderte, Legastheniker, Senioren (2023 waren 22 % der Bevölkerung mindestens 65 Jahre alt), Brillenträger, Personen mit motorischen Störungen (bis hin zu spastisch Erkrankten), oder durch Unfälle vorübergehend beeinträchtigte Menschen.

Es handelt sich hierbei um Millionen Menschen allein in Deutschland. In der EU geht man von 38 Mio. aus. In den USA schätzt man die Zahl auf ca. 39 Mio. Hinzu kommt, dass diese Zielgruppe überproportional im Internet vertreten ist und oft über erhebliches freies Eigenkapital verfügt.

Wollen Sie diese Kunden zur Ihren Mitbewerbern vertreiben?

Man kann die Gruppe derjenigen, die mit den derzeitigen Internet-Auftritten nicht zurechtkommen, noch erweitern, indem man ungeduldige Manager, Internet-Neulinge, Benutzer mit langsamem Internet-Anschluss (eventuell Mobiltelefon), anspruchsvolle Nutzer, fremdsprachige Benutzer, durchschnittlich oder unterdurchschnittlich gebildete Benutzer, Nutzer mit spezieller / seltener / alter Hardware (PCs, Palmtops, Mobiltelefonen, Braille-Tastaturen / Braille-Ausgaben, Screenreader, Computer im Auto etc.), Nutzer mit spezieller / seltener / alter Software (Betriebssysteme, Browser, Vorlese-Software etc.) hinzufügt.

Erwiesenermaßen profitieren auch diese Menschen sowie sogar alle Normalnutzer von barrierefreien Internet-Auftritten.

Dies ist wichtiger Aspekt, denn barrierefrei ist nicht identisch mit behindertengerecht!
Barrierefreiheit richtet sich an alle Nutzer!

Vorteile

Die Vorteile barrierefreier Auftritte sind (für die Anbieter solcher Angebote) erheblich:
Eine Marktausweitung ist möglich, da die vergrößerte Reichweite Ihnen neue (bisher unbearbeitete) Märkte eröffnet.
Ein Abbau von Hemmschwellen im Kundenkontakt ist nachweisbar, durch eine umfassendere technische Erreichbarkeit, durch erhöhte Verständlichkeit und leichtere Benutzbarkeit.
Ein Image-Gewinn durch soziale Kompetenz wurde nachgewiesen. Eventuell können Sie in Ihrem Marktbereich sogar eine Vorreiterrolle einnehmen.
Ein erhöhter Bekanntheitsgrad, durch bessere Platzierungen in Suchmaschinen und damit leichtere Auffindbarkeit. Denn Suchmaschinen arbeiten wie Sehbehinderte.
Zudem ist dies eine Abwehr und Ausgleich von Maßnahmen Ihrer Konkurrenten.
Letztendlich führt es zu einer Kostenersparnis. Denn barrierefreie Internet-Auftritte sind leichter zu pflegen, zu warten und weiterzuentwickeln.

Kosten

Die Kosten barrierefreier Auftritte werden überschätzt oder von interessierten Kreisen (Agenturen, die so etwas nicht anbieten können) übertrieben.

Da bei einem barrierefreien Auftritt ein sofort spürbarer ROI (ein Return on Investment - also ein Gewinn auf die getätigte Investition) eher selten ist, muss man bei einem Vergleich zwischen barrierefreien und herkömmlichen Internet-Auftritten die TCO die Total Cost of Ownership betrachten - also die Gesamtkosten über die Jahre hinweg.
Die Planung ist zwar aufwändiger als bei herkömmlichen / klassischen Auftritten.
Die Umsetzung ist ebenfalls aufwändiger als bei herkömmlichen / klassischen Auftritten, da viele Internet-Spezialisten dies bisher nicht beherrschen und sich erst einlernen müssen.
Bereits der wesentlich preiswertere Betrieb wiegt jedoch alle Kosten der zwei vorherigen Stufen auf im Vergleich zu herkömmlichen Internet-Auftritten. Ab hier befinden Sie sich deutlich in der Gewinnzone. Denn auch die Wartung wird erheblich preiswerter.
Die gesamte Weiterentwicklung profitiert davon. Ein eventuell später erforderliches Redesign ist preiswerter als bei herkömmlichen Auftritten. Und auch ein eventuell später erforderlicher Relaunch wird dramatisch preiswerter als bei herkömmlichen Auftritten.

Noch deutlicher wird es, wenn man den TBO (Total Benefit of Ownership) betrachtet - also den Gesamtnutzen eines barrierefreien Internet-Auftrittes, weil man positive Marketingeffekte, verringerte Kommunikationskosten, Synergien, eine Prozesskostenersparnis, eine gesteigerte Gebrauchstauglichkeit und erhöhte Akzeptanz verbuchen kann.

Behörden

Für deutsche Behörden des Bundes und der Länder gelten bereits gesetzliche Sonderregelungen, die behindertengerechte Internet-Auftritte fordern. Grundlage hierfür ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) vom 27. April 2002.
Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) gilt für alle Internet-Auftritte sowie alle öffentlich zugänglichen Intranet-Angebote von Behörden der Bundesverwaltung. Für die Internet-Auftritte der Bundesländer existieren jeweils eigene Bestimmungen.
BITV zielt darauf ab, die betreffenden Angebote der Informationstechnik behinderten Menschen, denen ohne die Erfüllung zusätzlicher Bedingungen die Nutzung der Informationstechnik nur eingeschränkt möglich wäre, den Zugang zu dieser zu eröffnen oder zu erleichtern.

Behinderte besitzen spätestens seit dem 1.1.2006 auf Bundesebene das einklagbare Recht auf derartige Zugänge.

Weiterführende Informationen

Wikipedia-Artikel zum Barrierefreien Webdesign, Wikipedia-Artikel zur WAI - Web Accessibility Initiative, W3C-Richtlinien WCAG - Zugänglichkeitsrichtlinien für Web-Inhalte 1.0 (deutsch), W3C-Richtlinien WCAG - Web Content Accessibility Guidelines 1.0 (englisches Original), Wikipedia-Artikel zur BITV - Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung, Testsoftware Online-Test (kostenlos).

Im folgenden Kapitel geht es um den Einfluss der Farben.

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